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    Deirdre oder Der traurige Clown

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    Deirdre oder Der traurige Clown Empty Deirdre oder Der traurige Clown

    Beitrag  Talkmaster Mo Sep 07, 2009 5:25 pm

    Deirdre oder Der traurige Clown


    Es war einer jener kalten, nebligen Tage Mitte Februar, an denen man morgens beim Blick aus dem Fenster am liebsten zurück ins Bett kriechen würde; einer der Tage, an denen man vollkommen durchnässt ist, sobald man auch nur zwei Schritte aus dem Haus, hinein in den Nieselregen gemacht hat.
    Noah saß am Fenster und wartete. Es war Freitag; eine lange, trostlose Woche lag hinter ihm. Eine Woche, in der er Deirdre kein einziges Mal gesehen hatte.
    Vielleicht war sie nur krank gewesen. Normalerweise kam sie jeden Morgen an seinem Haus vorbei, auf dem Weg zur Schule.
    Vielleicht würde sie heute kommen.
    Schritte. Schritte auf dem Kiesweg. Noah hatte sein Fenster nur angelehnt, die Geräusche von draußen drangen ungehindert in das Zimmer.
    Er versteifte sich.
    Eine Gestalt näherte sich dem Haus. Er folgte ihr mit den Augen.
    Sie hatte die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Kopf gesenkt.
    Nun war sie direkt vor seinem Fenster. Noahs Lippen verzogen sich zu einem kleinen, glücklichen Lächeln.

    Der Nebel war hartnäckig, den ganzen Tag über. Nun, da die Dämmerung bereits viele Stunden zurück lag, konnte man draußen trotz der hell erleuchteten Fenster kaum die eigene Hand vor den Augen sehen.
    Deirdre fröstelte. Christian hatte darauf bestanden, dass sie ihn auf die Terrasse begleitete, und nun hatte er sie allein gelassen. Sie wartete seit fünf Minuten.
    Deirdres Lippen bebten, doch sie taten es nicht wegen der Kälte.
    Fast glaubte sie eine Silhouette in der Dunkelheit ausmachen zu können; die Umrisse eines Körpers…ein Clownsgesicht…
    Deirdre stolperte einige Schritte zurück. Sie würde nicht länger auf Christian warten.
    Sie riss die Tür auf, stürzte hinein und schlug sie hinter sich zu. Dann lehnte sie sich dagegen und atmete einige Male tief ein und aus.
    Es war warm, stickig fast, und aus dem Keller tönte Musik hinauf.
    „Deirdre?“ Laura stand vor ihr. Deirdre hatte ihr Kommen nicht bemerkt.
    „Kommst du noch einmal mit nach unten?“
    Deirdre schüttelte den Kopf. „Ich…nein. Ich will nach Hause. Bevor es noch später wird.“
    Die ganze Woche, bis auf diesen einen Tag, hatte sie wegen des Nebels keinen Schritt aus dem Haus getan. Im Nebel würde es noch leichter sein, ihr aufzulauern.
    Warum nur hatte sie sich von Laura dazu überreden lassen, zu dieser Party zu kommen?
    Laura verdrehte die Augen. „Es ist jetzt genauso dunkel wie in zwei Stunden, Deirdre. Es ist schon fast Mitternacht!“
    Deirdre schüttelte erneut den Kopf und nahm ihre Tasche vom Haken.
    „Bittest du Christian, dich zu begleiten?“
    „Christian ist verschollen. Auf Wiedersehen, Laura.“
    Deirdre drückte ihre Freundin kurz an sich und trat hinaus in den Nebel.

    Der letzte Bus war längst gefahren. Weit und breit war kein Taxi zu sehen.
    Deirdre schluckte und umklammerte ihr Pfefferspray, obgleich sie bezweifelte, dass sie damit eine Chance gegen den Clown haben würde, falls er beschließen sollte, den Abend zu nutzen, um…
    Deirdre blieb stehen. Um was zu tun? Was war das Ziel eines Stalkers?
    Die Maske, mehr eine Fratze als ein Clownsgesicht…die seltsam krächzende Stimme…
    Zielte all das nur darauf ab, sie in den Wahnsinn zu treiben? Aber warum?
    Je länger sie in die Dunkelheit starrte, desto mehr schien das Gesicht in ihrem Kopf mit der Realität zu verschmelzen. Und plötzlich tönte es von allen Seiten: „Deirdre…Deirdre…Deirdre…“
    Deirdre machte einen Schritt nach hinten.
    Und dann war er da, direkt vor ihr.
    „Deirdre“, krächzte er. „Deirdre.“
    Deirdre schrie. Sie schrie und schrie, doch sie bewegte sich nicht vor der Stelle, war wie gelähmt.
    „Deirdre“, wiederholte er. Nie hatte sie ihn etwas anderes sagen hören als ihren Namen. Mittlerweile erschien er ihr wie ein Fluch.
    „Deirdre.“ Der Clown streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus.
    Ihr Herz hämmerte, als wolle es einen Marathon gewinnen, und pumpte Unmengen an Adrenalin durch ihren Körper. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Nackenhaare stellten sich auf.
    Deirdre schrie nicht mehr. Niemand würde sie hören.
    Sie erwachte aus ihrer Erstarrung. Deirdre machte auf dem Absatz kehrt und rannte um ihr Leben.

    Wenige Minuten zuvor war Deirdres Name aus allen Himmelsrichtungen gerufen worden, nun, auf einmal, war es vollkommen still. Das Einzige, was Noah hören konnte, war das Pochen seines eigenen Herzens; und dann die Schritte auf dem Asphalt, die immer näher kamen.
    Deirdres Schritte. Gehetzt, panisch.
    Sie war ganz nah. Jetzt konnte er sie im Nebel sogar ausmachen.
    Sie rannte direkt in ihn hinein. Er gab sich Mühe, nicht zu lächeln.
    Sie riss entsetzt die Augen auf und wollte bereits kehrtmachen – in ihrer Panik schien sie nicht mehr zu wissen, vor wem sie eigentlich floh –, doch er packte sie an den Schultern und hielt sie fest.
    „Deirdre? Ist das dein Name?“
    Sie nickte. Langsam schien sie sich zu beruhigen.
    „Es war nicht zu überhören“, antwortete er auf ihren fragenden Blick.
    „Er ist ein Stalker“, flüsterte sie. „Seit Wochen verfolgt er mich. Irgendwie habe ich geahnt, dass er mir heute auflauern würde.“
    Noah nickte langsam. „Wenn du möchtest, begleite ich dich nach Hause. Ich heiße Noah.“

    Noah und Deirdre hielten einander an den Händen, während sie Seite an Seite durch den Nebel gingen. Sie liefen scheinbar ziellos durch die Stadt; Deirdre hatte erklärt, sie habe den Weg verloren, und ihn wieder zu finden, war bei diesem Nebel so gut wie unmöglich. Also gingen sie einfach immer weiter und hofften, dass es bald hell wurde und der Nebel sich endlich lichtete.
    Noah betrachtete Deirdre von der Seite. Ihr dunkelblondes Haar schien im Dunkeln zu leuchten, ihre grünen Augen erinnerten ihn an die einer Katze. Sie war immer dunkel und unauffällig gekleidet; manchmal bedauerte er das, aber andererseits passte es zu ihr.
    „Wo sind wir?“ Deirdres Stimme klang seltsam fremd.
    Noah zögerte. „Ich weiß nicht.“ Einige Meter von ihnen entfernt spendete eine Straßenlaterne spärliches Licht.
    „Vor der Brücke…glaube ich.“
    Deirdre nickte. Sie beschleunigte ihre Schritte.

    Deirdre blieb mit rasch klopfendem Herzen auf der Brücke stehen, die sie bis zur Hälfte durchquert hatten.
    „Danke“, sagte sie leise. „Danke dafür, dass du bei mir bleibst.“
    Noah zuckte mit den Schultern. Obgleich sie ihn im Nebel kaum erkennen konnte, bemerkte sie eine Wärme in seinem Blick, die sie verwirrte. Als ob er sie schon sehr lange kennen würde…
    Deirdre musterte ihn verwirrt. Dann wandte sie ihm den Rücken zu und starrte auf den Fluss hinaus.
    Der Nebel hatte sich etwas gelichtet; vielleicht war es aber auch das aufziehende Tageslicht, dass es ihr ermöglichte, das Wasser zu sehen, das unter ihr toste und rauschte.
    Deirdre drehte sich zu Noah um. Doch Noah war verschwunden.
    Vor ihr stand der Clown.
    „Deirdre.“ Diesmal krächzte er nicht. Er sprach mit Noahs Stimme.
    Deirdre wich zurück, bis sie das Geländer im Rücken spürte.
    „Endlich, Deirdre. Endlich habe ich dich gefunden.“
    Deirdre stieg auf das Geländer und stürzte sich in den Fluss.

      Aktuelles Datum und Uhrzeit: So Mai 19, 2024 11:31 am